Tag 2 der mündlichen Verhandlung des BVerfG über die Wahlrechtsreform
Vom „Moin“ im Norden bis zum „Grüß Gott“ im Süden – wie viel flächendeckende Repräsentation erfordert das Wahlrecht? Am zweiten Tag der mündlichen Verhandlung zur Wahlrechtsreform ging es um genau diese Frage. Denn das Zusammenspiel aus Zweitstimmendeckung und 5%-Sperrklausel ohne Grundmandatsklausel kann zu einer Vielzahl an verwaisten Wahlkreisen und damit unterrepräsentierten Regionen führen. Aber ist dieses politische Downside auch ein rechtliches?
Nach dem Heat-up am Dienstag folgte eine inhaltlich anspruchsvolle und teils mit Pathos geführte Debatte. Nahezu alle Prozessbevollmächtigten hatten ihre Place bereits vor der mündlichen Verhandlung dargelegt.1) Spannend struggle insofern vor allem, welche Nachfragen die Verfassungsrichter stellen und ob sich eine Dynamik in der Diskussion entwickelt. Dem Zweiten Senat des BVerfG kommt nun die Aufgabe zu, die dem Gesetzgeber nicht gelungen ist: eine integrierende Entscheidung über das Wahlrecht im Konsens. Dabei lässt er sich kaum in die Karten schauen.
Systemwechsel: Ja oder nein?
Grundlegende Uneinigkeit besteht zwischen beiden Seiten schon über die Frage, ob sich das System von der personalisierten Verhältniswahl hin zu einer reinen Verhältniswahl gewandelt habe. Die Antragsteller gehen weiterhin von einer Verhältniswahl mit einem mehrheitswahlrechtlichen Aspect aus. Zwar behaupte § 1 Abs. 2 S. 1 BWahlG, das eine Verhältniswahl vorliege, bei der Bewertung komme es aber nicht auf das semantische Narrativ, sondern auf die normative Substanz an. Der überlebende Aspekt der Mehrheitswahl liege in der legitimatorischen Bedeutung der Wahl mit Mehrheit im Wahlkreis, die sich im Vorrang bei der Sitzvergabe nur für Wahlkreissieger zeige. Zudem spreche das BWahlG explizit von einer Erststimme für die Wahl, nicht nur von einer Vorauswahl. Dagegen verwirkliche die Wahlrechtsreform nach Ansicht der Antragsgegner ein reines Verhältniswahlrecht. Die Erststimme vermittle keine eigenständige, sondern nur noch eine bedingte Legitimation. Es reichen eben nicht mehr nur die meisten Stimmen im Wahlkreis aus, vielmehr gebe es mit der Zweitstimmendeckung eine zweite Bedingung für die Mandatsvergabe; insofern liege eine kumulative Zulassungsregel vor.
Ungleichbehandlung der Wählerstimmen?
Nur wenn man sich diese elementary entgegengesetzten Ansichten der Beteiligten vergegenwärtigt, lassen sich die besonders weit auseinanderdriftenden Annahmen zur gleichheitsrechtlichen Bewertung nachvollziehen: Während Bundestag und Bundesregierung vom „gleichsten Wahlrecht“ aller Zeiten ausgehen, kritisierten die Antragsteller – den mehrheitsrechtlichen Gleichheitsmaßstab in sich konsequent angewendet – eine Ungleichbehandlung in gleich dreierlei Hinsicht: Ungleich würden sowohl die Wählerstimmen als auch die Bewerber sowie die Parteien behandelt. Denn die mehrheitswahlrechtliche Gleichheit werde aus Gründen beeinträchtigt, die außerhalb der Mehrheitswahl im Wahlkreis liegen, nämlich in der ausreichenden Deckung mit Zweitstimmen. Selbst wenn aber ein reines Verhältniswahlsystem angenommen werde, wäre die Erfolgswertgleichheit der Zweitstimmen berührt, weil die Zuteilung der Sitze vorrangig an die Wahl im Wahlkreis anknüpfe. Richterin Christine Langenfeld offenbarte, dass sie an dieser These „ziemlich herumknacke“. Die Nachfragen zeigten, dass die Richterbank auf die Ungleichbehandlung der Bewerber (im Vergleich zu ihren Parteikollegen in anderen Wahlkreisen) und Parteien (systemimmanente Benachteiligung von Parteien mit hohem Erststimmenumfang?) eher skeptisch blickt, die rechtliche Beurteilung der Ungleichbehandlung der Wählerstimmen jedoch das Verfahren wohl maßgeblich entscheiden dürfte.
Dem hielt die Gegenseite – ebenfalls konsequenterweise – entgegen, dass eine Ungleichbehandlung nicht bestehen könne, weil beide Faktoren (Erststimmenmehrheit und hinreichende Zweitstimmendeckung) für alle Wählerstimmen, Bewerber und Parteien in gleicher Weise gelten. Die tatsächliche politische Lage sei dabei nicht zu berücksichtigen; insbesondere die gewachsene Struktur des Zusammenschlusses von CDU und CSU in einer Unionsfraktion könne den verfassungsrechtlichen Maßstab nicht tangieren. Dass das den Senat womöglich nicht vollständig überzeugte, ließen intensive Überlegungen darüber vermuten, inwiefern sich der bestehenden Struktur – etwa in Kind der Integrationsfunktion der Wahl – verfassungsrechtliche Relevanz zusprechen lasse. Den Versuch, die Ungleichbehandlung zwischen parteigebundenen und unabhängigen Bewerbern, für die die Zweitstimmendeckung nicht gilt, zu widerlegen, unternahm Christoph Möllers erst gar nicht. Der bloße Verweis auf eine frühere Entscheidung des BVerfG zur zwingenden Möglichkeit von parteiunabhängigen Kandidaten (BVerfGE 41, 399 ff.) dürfte den Richtern als Rechtfertigung aber wohl nicht reichen.
Der Senat lässt sich nicht in die Karten schauen
Bei der Überlegung, wie sich eine Ungleichbehandlung rechtfertigen ließe, setzte sich – wenig überraschend – die Uneinigkeit fort. Als Rechtfertigungsgründe wurden insbesondere das Mehrheitsprinzip, die Integrationsfunktion der Wahl sowie die Funktionsfähigkeit des Parlaments ventiliert. Die Verfahrensbeteiligten diskutierten nicht nur über die tatsächlichen Fragen der Arbeitsfähigkeit, sondern auch darüber, anhand welcher Kriterien sich diese ablesen lasse und welcher Gefährdungsgrad hierbei anzusetzen sei. Streit bestand namentlich über die Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, additionally ob es in der alleinigen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers selbst liege, eine Gefährdung festzustellen, oder diesbezüglich ein strikter Kontrollmaßstab des BVerfG geboten sei. Die Senatsmitglieder zeigten an diesem Punkt hingegen kein gesteigertes Interesse, was nahelegt, dass für die internen Beratungen insofern jedenfalls keine grundlegenden Fragen mehr offenstehen. Zu den übrigen Rechtfertigungsgründen trugen die Antragsteller vor, der Gedanke des Mehrheitsprinzips könne eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen, weil dessen Erwartung (es gewinne derjenige mit den meisten Wahlkreisstimmen) durch die zusätzliche Bedingung der hinreichenden Zweistimmendeckung entwertet würde.
Größeres Interesse zeigten die Verfassungsrichter an der Integrationsfunktion der Wahl, die eine Ungleichbehandlung im Interesse regionaler Repräsentation „vom ‚Moin‘ im Norden bis zum ‚Grüß Gott‘ im Süden“ (so die Berichterstatterin Astrid Wallrabenstein) ermögliche – wenn nicht sogar gebiete. Die Antragsgegner sprachen dieser Erwägung ab, sich als Rechtfertigung zu eignen, da die Integrationsfunktion ein bloßes Hilfsargument und keine eigenständige Grenze des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums sei. Dass das jedenfalls Richterin Astrid Wallrabenstein nicht vollständig überzeugte, indizierte die von ihr eingebrachte Überlegung zu einer länderübergreifenden Verrechnung der Zweitstimmen als womöglich milderem Mittel.
Den Aufwand, den der Zweite Senat nicht nur auf die Prüfung einer Ungleichbehandlung, sondern auch auf deren mögliche Rechtfertigung aufwendete, zeigt, dass die Verfassungsrichter hier noch unentschlossen oder jedenfalls uneins sind. Wenn sie einen (echten) Wahlsystemwechsel annehmen, müssten sie insbesondere prüfen, inwieweit Aspekte der Wahlgleichheit als Maßstab zu berücksichtigen sind. Spannend ist dabei insbesondere die von der Richterin Christine Langenfeld erhoffte dogmatische Aufklärung, die der Senat nunmehr selbst leisten muss. Sollte er die gesamte Wahlrechtsreform verwerfen, dürfte zusätzlich herausfordernd werden, das alte Recht zügig anzuwenden. Denn das vorherige BWahlG sah für die nächste Bundestagswahl eine Absenkung auf 280 Wahlkreise vor, auf die sich wegen der „Überschreibung“ durch die neue Reform jedoch weder die Wahlleitung noch die Parteien wirklich vorbereitet haben.
Sollte die Sperrklausel modifiziert werden?
Den zweiten Schwerpunkt bildete die Diskussion rund um die 5%-Sperrklausel. Es mutet etwas komisch an, ausführlich über eine Regelung zu streiten, die das Bundeswahlrecht schon seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland kennt und die vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung (siehe etwa BVerfGE 95, 408 [419]; BVerfGE 131, 316 [344]) immer für zulässig erachtet wurde. 1949 galt die 5%-Sperrklausel noch getrennt für jedes Land, seit 1953 bezieht sie sich auf die bundesweit2) abgegebenen gültigen Zweitstimmen. Doch das Bundeswahlrecht kannte seit 75 Jahren auch die Grundmandatsklausel als Korrektiv für die Sperrklausel, die Parteien, die mindestens drei Wahlkreismandate errungen hatten, unabhängig vom Überschreiten der Sperrklausel die Teilnahme am Verhältnisausgleich erlaubte. Mit der Wahlrechtsreform fiel die Grundmandatsklausel ersatzlos weg. Insofern stellt sich die Frage, ob mit diesem wegfallenden Korrektiv die Sperrwirkung der 5%-Hürde verschärft wurde und mithin noch gerechtfertigt werden kann.
Thorsten Kingreen argumentierte dazu sowohl auf einer normativen als auch einer faktischen Ebene. Zum einen verstärke das veränderte normative Umfeld die Wirkung der Sperrklausel. Der Gesetzgeber sei seiner verfassungsrechtlichen und vom BVerfG anerkannten Pflicht zur anlassbezogenen Prüfung aber nicht nachgekommen. Zum anderen zog er einen Vergleich zur Erderwärmung: Die wärmsten, sprich relevantesten Jahre für die Sperrklausel waren die letzten Wahlen, bei denen teilweise über 15% der Zweitstimmen nicht an der Mandatsverteilung teilnahmen. „Wann, wenn nicht jetzt“, sei eine Überprüfung der 5%-Hürde geboten. Auch wenn die von ihm vertretenen Beschwerdeführer formal beantragt haben, die 5%-Sperrklausel ersatzlos zu streichen, wolle er gleichwohl nicht generell die Bedeutung einer Sperrklausel für die Funktionsfähigkeit des Parlaments, sondern nur ihre aktuelle Höhe in Abrede stellen.
Einen anderen Zugang wählten Markus Möstl und Kyrill-Alexander Schwarz, weil sie sich vorrangig weder gegen die Existenz noch die generelle Höhe der Sperrklausel wendeten. Sie betonten vielmehr das Zusammenspiel mit der erforderlichen Zweitstimmendeckung. Insofern werde auch eine Sperrwirkung für die Erststimme erzielt, die eine additive Beschränkung sei und zu einer massiven Unterrepräsentanz einzelner Regionen führen könne. Dem müsse weiterhin durch eine Grundmandatsklausel begegnet werden. Insofern treffe den Gesetzgeber aus dem Prozeduralisierungsgebot auch eine Begründungspflicht für den ersatzlosen Wegfall des Korrektivs zur Sperrklausel. Richterin Christine Langenfeld zeigte sich davon jedoch noch nicht überzeugt. Schließlich schulde der Gesetzgeber üblicherweise nur das Gesetz und nicht – bzw. nur in vom BVerfG aufwendig begründeten Ausnahmefällen – auch seine Begründung.
Auf der Seite der Antragsgegner verteidigte Florian Meinel die 5%-Sperrklausel in ihrer jetzigen Kind. Sie sei zu einem zentralen Verfassungsfaktor geworden, der das Parteienspektrum konsolidiert habe und damit die Stabilität des Parteiensystems sowie der Regierungsbildung sicherstelle, gleichwohl aber nicht verhindere, dass sich neue Parteien etablierten. Gerade jetzt müsse die Sperrklausel auch erneut eine Konsolidierung des Parteispektrums leisten. Eine notwendige Berücksichtigung föderaler Belange verletzte hingegen das Repräsentationsprinzip. Warum Florian Meinel in seiner Argumentation häufig auf die Leistungen der 5%-Hürde in der bundesdeutschen Geschichte verweist, Erwägungen in Bezug auf die gegebene, historisch gewachsene Parteienlandschaft jedoch nicht gelten lässt, scheint zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich. Sophie Schönberger irritierte insofern die sich verändernde Rolle der Integrationsfunktion, die bisher immer als Rechtfertigungsgrund, nicht aber als Argument zur Gebotenheit fungierte.
Der Senat ging in seinen Nachfragen nicht nur zweifellos von einer Verschärfung der Sperrwirkung aus, sondern zeigte auch deutlich seine Sorgen mit Blick auf die faktischen Auswirkungen. Richter Ulrich Maidowski brachte seine Besorgnis schon am Vortag zum Ausdruck, Richter Hölger Wöckel sprach von einer desintegrativen Wirkung und auch die übrige Richterbank verwies wiederholt auf die historische Entwicklung und aktuelle Realität. Insofern dürfte sich die Beratung im Senat wohl nicht mehr um das Ob der Beanstandung der 5%-Sperrklausel, sondern „nur noch“ um den entsprechenden verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt und die sich daraus ergebende Rechtsfolge drehen. Vizepräsidentin Doris König fragte die Prozessbevollmächtigten gleich mehrfach nach ihrer Einschätzung zu einer 3%-Sperrklausel. Richterin Rhona Fetzer knüpfte mit dem Begriff der besonderen Umstände wohl an eine frühere Entscheidung des BVerfG an (BVerfGE 82, 322 [339]) und stellte in den Raum, ob mit den veränderten Spielregeln (kumulativ) ein solcher besonderer Umstand gegeben sei. Eine Regionalisierung der Sperrklausel wurde nur kurz erwogen.
Integration statt Politisierung
In den abschließenden Statements wurde noch einmal deutlich, wie stark politisiert das Wahlrecht ist – wovor freilich jeder warnte. Dem BVerfG kommt nun die schwierige Aufgabe zu, nicht nur ein dogmatisch fundiertes und verfassungsrechtlich überzeugendes, sondern zugleich ein gesellschaftlich integrierendes Urteil zu sprechen. Leisten könnte das vor allem eine – im Gegensatz zur knappen Mehrheit des Gesetzgebers – einstimmige Entscheidung des Gerichts, die einen Ausgleich zwischen den verschiedenen rechtlichen wie auch politischen Ansichten trifft.